Zitat: “Denn wenn der Tod nicht mehr als eine Erfahrung des Körpers gesehen wird, sondern ein Versagen des Systems bedeutet, ist der Kampf von Anfang an verloren. Zunächst einmal werden wir unsere Kräfte und Ressourcen schnell erschöpfen. Wir werden auch Erwartungen wecken, die nicht erfüllt werden können: Jeder einzelne Tod wird die Frage nach einem ,Schuldigen‘ aufwerfen. (…)
Wie kann man Gesundheit und den Respekt dem Leben gegenüber mit Selbstbestimmung und der offensichtlichen Tatsache in Einklang bringen, dass wir begrenzte Ressourcen haben und sterblich sind? Wann kann man hinnehmen, dass der Tod ,altersbedingt‘ kommt, ,natürlich‘ und egal, welche infektiösen Strukturen wir im menschlichen Körper finden, und wann sollte man bis zum Umfallen kämpfen?
Zum Wesen einer Demokratie gehört auch die regulative Zurückhaltung. Selbst wenn die Absichten noch so gut sind und die Krise überwältigend ist, muss der Versuch, die Bürger, die Krankheiten und vielleicht gleich auch noch den Tod zu kontrollieren, in einer Katastrophe enden. (…)
Gesundheit ist eine konkrete Erfahrung des Körpers. Mein lieber Körper, ich frage dich direkt: sind du und ich das Gleiche oder bist du jemand ganz anders? „Liebe zeigen, Abstand halten“ – der Slogan der Initiative Deutschland gegen Corona, der die Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie auf den Punkt bringt, fügt sich in einem breiteren Kontext in die Tradition der Gleichstellung des menschlichen Seins mit dem Denken ein. Demnach waltet die Liebe in der sterilen Sphäre des Geistes, weit weg vom Körper, und die Welt unterliegt einer ähnlich sterilen, intellektuellen Beobachtung ,aus der Vogelperspektive‘. Als wäre das kartesianische Cogito außerhalb des Körpers platziert, überall auf einmal und nirgendwo konkret. (…)
Die Ausdrucksformen der Nähe von Körpern zueinander sollen im Namen der öffentlichen Ordnung außerhalb des Sichtbaren platziert werden. (…)
Nicht der Körper scheint das Gefängnis der Seele zu sein, eher ist die Seele das Gefängnis des Körpers. Georges Bataille schreibt über den verschwenderischen Überschuss, die Überschreitung, ein Fest, einen körperlichen Impuls, der ständig wiederholt wird, weil er nie zur vollständigen Befriedigung führt. Keine Gesellschaftsordnung ist in der Lage, diesen Überschuss aufzufangen, geschweige denn ihn zu bändigen und zu verwerten.
In der heutigen Welt der Nützlichkeit schafft der Exzess einen Raum, in dem die Dichotomie zwischen dem Ich und dem Anderen überschritten werden kann. Dies eröffnet auch den Weg, sich kollektiv wieder mehr auf die sich dem Verstand entziehende Natur einzulassen. Nicht die eigene, stabile Identität eingebunden in die Netzwerke aus Bekenntnissen wird so zur Grundbedingung des gesellschaftlichen Lebens, sondern ein heterogenes, unscharfes Ich. (…)
Im Gegensatz zu dem weitverbreiteten Spruch sprechen Fakten nicht für sich. Für sich sprechen Menschen. (…)
Vielleicht haben diejenigen, die vom Staat mehr Durchgreifen fordern, und diejenigen, die sich über die Ruhe in ihren heimischen Nestern freuen, und schließlich auch die schweigenden Demonstranten mehr miteinander gemeinsam, als man denkt. Sie alle leiden an der mangelnden Einflussnahme auf ihre Umgebung. (…) Gleichzeitig werden bürgerliche Freiheiten, die wichtigste Voraussetzung für eine wirksame Partizipation, als überflüssig abgewertet. Sie verkommen zu einem Luxus, bestimmt für wohlhabende, vitale Bürger im erwerbsfähigen Alter. (…) Im Lockdown ist es nicht der Beamte, der beweisen muss, dass ich gegen die Vorschriften verstoße, sondern ich bin derjenige, der ihn überzeugen muss. Die Verletzung des Prinzips der Unschuldsvermutung geht Hand in Hand mit der Aussetzung der Versammlungsfreiheit und des Rechts auf Freizügigkeit. Ein trauriges Bild zeichnet sich ab: Waren und Kapital kreisen längst wieder frei um den Globus, die Menschen sollen besser zu Hause bleiben. Ist diese „neue Normalität“ eine Welt, mit deren Gründung wir unsere Politiker für die nächsten vier Jahre wirklich beauftragen wollen? (…) Die Sprache des ,Kriegs gegen das Virus‘ inszeniert ein Spektakel und verwischt die Grenze zwischen Krisenmanagement und Panikmache. Aus unseren verschlafenen Debatten geht eine neue Art von Populismus hervor – der Gesundheitspopulismus.
Gerade heute sehen wir es mit Afghanistan überdeutlich: Die Zahl der Opfer der Terroranschläge ist erschreckend niedrig geblieben im Vergleich zu den Opfern der im Kampf eingesetzten ,Sicherheitsmaßnahmen‘: Unzählige Menschen sind auf der Flucht, sind traumatisiert, tot oder verkrüppelt. Die falsch gesetzten Prioritäten sprengen die globalwestlichen Gesellschaften von innen, allen anhaltenden Aufrufen zu stammesnationaler Konsolidierung zum Trotz. Wird der Krieg gegen das Virus ähnliche Auswirkungen haben?”
zitiert aus Stanislaw Strasburger, Jetzt zeigt sich das wahre Gesicht der strengen Hirten. Welt, 11.9.2011: https://www.welt.de/kultur/plus233708106/Corona-Politik-Jetzt-zeigt-sich-das-wahre-Gesicht-der-strengen-Hirten.html