Putins Einschätzung des Westens hat sich eben nicht als falsch erwiesen.

6. März 2022
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Sehr lesenswerter Beitrag von Julian Reichelt, 6. März 2022. @jreichelt

Das ist nüchternes, nachdenkenswertes Denken, geschult am Unrat der Welt.

“(…) Ich fürchte, Putin hat auch vorausgesehen, wie wir auf den historischen Kollaps unserer absoluten Gewissheiten reagieren würden: Indem wir uns rasant neue absolute Gewissheiten schaffen. (…)

Ein einfacher Merksatz, den ich als Reporter in Syrien unter Putins Bomben bitter gelernt habe: Wenn Putin „Waffenstillstand“ sagt, meint er die Vorbereitung der noch blutigeren und skrupelloseren Offensive. Wenn er von „humanitären Evakuierungskorridoren“ spricht, meint er, dass er in seinem Narrativ eine ganze Stadt zum legitimen militärischen Ziel macht. Wenn er sagt, alles wird gut, wird es schlimm. Was aber nicht bedeutet, dass es gut wird, wenn er sagt, es werde schlimmer. Wer Putins Wahnwelt durchdringen will, muss vor allem hinterfragen, was Putin uns glauben machen will. Putin liebt Judo. Er wendet die Kraft, die wir aus Gewissheiten schöpfen, gegen uns selbst. Putins Spiel ist Schach, bei dem die Regeln nur für uns gelten. (…)

Gewiss ist nur: Es gibt keine einzige Sanktion, die Putin nicht hätte kommen sehen können. (…)

Wenn wir auf die deutschen Sanktionen blicken, müssen wir feststellen, dass Putin uns (bisher) genau richtig eingeschätzt hat. Jeden Tag fließen aus der EU rund 600 Millionen Euro an das russische Angriffskriegs-Regime, auch um die Energieversorgung Deutschlands nicht zu gefährden. Wirtschaftsminister Robert Habeck liefert Putin alles, was der Tyrann wissen muss, wenn er sagt, man würde sonst den „sozialen Frieden in Deutschland gefährden“.

Putins Annahme, wir würden eher das Leben der Ukrainer als unsere warmen Wohnungen riskieren, hat sich als vollkommen zutreffend erwiesen. (…)

Putin lag richtig mit seiner Einschätzung, dass man in Deutschland eher die Ukraine untergehen lassen würde, als mit aller Kraft alle bestehenden Atomkraftwerke wieder hoch zu fahren oder weiter laufen zu lassen. Bevor die Grünen ihre Anti-Atomkraft-Ideologie fallen lassen, lassen sie eher Kiew fallen. (…)

Wenn es auf Social Media nun durchgehend heißt, dies sei ausschließlich Putins Krieg und „nicht der Krieg der Russen“, dann haben wir im Blick auf beides, unsere Geschichte und die Gegenwart vor unseren Augen, noch nicht begriffen, wozu nationalistische Ideologien imstande sind. Natürlich haben wir es mit einer feindlichen Macht, mit feindlichen Millionen, nicht bloß mit einem feindseligen Mann zu tun. Und natürlich residiert dieser Feind mit seinen Propaganda-Sendern, Social-Media-Armeen, Immobilien, Fußballvereinen, Bankkonten mitten unter uns. Putin lag richtig mit der Einschätzung, dass es freien, reichen westlichen Gesellschaften sehr schwer fällt, andere Feinde zu erkennen als den Klimawandel.

Wer davon ausgeht, dass es nichts Gefährlicheres gibt als unsere eigenen Gewissheiten, wer hinterfragt, was in unseren Hauptstädten schon wieder Konsens zu werden droht, muss sich fragen: Was, wenn Putin uns derzeit eine Falle stellt, wie er uns seit Jahren Fallen stellt? Was, wenn er nicht nur die Ukraine meint, sondern die Nato? Was, wenn Putin seit Jahren alles dafür tut, um ein nationalistisches Selbstverteidigungsnarrativ zu schaffen, in dem er gegen die Nato losschlagen kann?  (…) Die einzig historisch erprobte Antwort auf ein ultra-aggressives Russland ist ultra-aggressive Abschreckung, militärisch, wirtschaftlich und rhetorisch. Solange wir die strategische Dynamik der Gewissheiten nicht umkehren, sind wir Putins Wahnsinn schutzlos ausgeliefert. Wir müssen Putins bisher leider berechtigte Gewissheiten zertrümmern, statt uns von ihm neue Gewissheiten wie Gift einflößen zu lassen.

Wenn wir Nato-Truppen nach Osten verlegen, sollten wir nicht mehr über Kompanien, sondern über Divisionen sprechen. Wenn wir über Sanktionen gegen Putins allmächtiges Oligarchen-Umfeld sprechen, sollten wir deutlich machen, dass sie allesamt, inklusive ihrer Internatskinder, nichts mehr zu suchen haben in Europa. Es gibt einen einfachen Grund dafür, dass so viele reiche Russen in Europa leben: Sie wollen nicht in Russland leben.

Kein einziger Dollar, kein einziger Euro darf mehr nach Russland fließen, egal, welchen wirtschaftlichen Schaden es bei uns anrichtet. Kein Politiker, kein Geschäftsmann, der je Putins Geschäft in Europa erledigt hat, sollte von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und Sanktionen unbehelligt bleiben. Haben wir wirklich schon alle juristischen Mittel ausgeschöpft, um die Vermögen von Gerhard Schröder und seiner deutschen Gazprom-Bande einzufrieren? (…) Mit Putin wird es keinen Frieden mehr in Europa geben. Deswegen muss alle Politik darauf ausgerichtet sein, sein Regime abzuschrecken, zu spalten und zu zerschlagen. Die deutsche Gewissheit, Frieden könne es nur mit Putin geben, hat uns an den Rande des dritten Weltkriegs geführt.”

https://www.cicero.de/aussenpolitik/russlands-krieg-ukraine-wladimir-putin-julian-reichelt

 

Siehe auch seinen Tweet vor 14 Stunden: Wie lange muss man es fortsetzen, Zivilisten in Europa zu bombardieren, damit Deutschland nicht mehr die Bomben bezahlt?

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