Es ist nicht so, dass es nichts mit uns zu tun hat und wir uns deshalb zurückziehen.
Wir sind in Afghanistan seit 20 Jahren engagiert, die Zeitspanne einer Generation lang. Engagement prägt den Engagierten wie das Objekt des Engagements. Allerdings gilt auch, Hochmut führt zu Verachtung, Verachtung macht skrupellos und kommt vor dem Fall.
Man kann in den Raum stellen: Die nächste westliche Generation hat das Engagement vor Ort mitten im Geschehen nicht übernehmen wollen. Möglicherweise hat das Interesse oder auch die Basis des Interesses, nämlich umfassende Information und mehr Bildung über dieses Gesellschaftsprojekt gefehlt. Es deutet auf ein Versagen der Medien hin. Medien berichten nur Katastrophen, Attentate, Kurzatmiges, Schreckliches und selten darüber, wie viele Kinder zur Schule gehen, wie die Gewalt in Familien nachlässt, wie sich die Sterblichkeit in einem Land entwickelt, die Lebenserwartung, das Nachtleben in Kabul, das Fernsehwesen, der Breitensport usw. auch die Religion.
Betreibt der Westen oder eine Gesellschaft für eine andere indirekt oder direkt Staats- und Nation-Building mit einer vom Ausgangspunkt tribalistischen Gesellschaft, so sollten die Fortschritte hin zu akzeptablen zivilisatorischen Standards auch besser kommuniziert werden als in der zurückliegenden Vergangenheit. So könnte sich dann eine kritische Öffentlichkeit auch eher für ein Engagement und eine eingeschlagene Methode begeistern oder an der Ausgestaltung der Methode mehr in aller Freiwilligkeit, wie dies bei NGO´s der Fall sein sollte, mitwirken. Man kann Information für sein Steuergeld verlangen, mediale Erschließung und nicht nur Katastrophen- und Horrorberichterstattung.
Oder, die erste Generation der alten Krieger ist es leid, weil es Geld gekostet hat und fortdauernd kostet und Menschenleben auch. Möglicherweise könnte sein, die Antwort der zweiten Generation, die nun im Engagement ablösen müsste und dafür sich selbst Antworten schuldig bleibt, warum sie etwas unterlässt oder doch eine Praxis des Einsatzes gestaltet, blieb einfach ganz aus und dann auch die Energie für ein Engagement. Die Twin Towers sind in Vergessenheit geraten, wieder, so ähnlich, in New Yorck aufgebaut. Die Attentate finden in Europa statt, was sollen wir da am fernen Hindukusch?
Aus den Kreisen der Veteranen des Einsatzes, also von denen, die einmal oder mehrmals da waren, hört man allerdings derzeit eben dieses nicht. Man hört nicht, das Engagement war nichts, sondern die Veteranen sind entsetzt über das jetzige Ende einer Praxis. So zumindest die Stimmen heute in Deutschland. Somit darf man gern unterstellen, die alten Krieger waren gewiss tatsächlich engagiert und bei der Sache gewesen, bis heute in ihren Herzen, Verwundungen, Opferungen um einer Praxis willen, die Menschen schützt in einer keimenden Zivilisation heutiger Maßstäbe, welch letztere ihre Zeit braucht, um der Humanität willen. Unterstellt man ihnen anderes, weil man ihnen die eigene divergierende Meinung unterschiebt, funktionalisiert man sie, die Soldaten und die Freiwilligen. Für was? Nennen wir es zunächst: für Es.
Zu klären wäre als erstes sehr wohl, was könnte es sein, dieses Es, das Objekt in diesen obigen subjektivistischen Sätzen, die all zu oft in verschiedenen Formulierungen als Beschreibung eines Gartenzauns fallen: “Es hat mit uns nichts zu tun. Deshalb sollten wir da weg gehen.”
Vielmehr ließe sich gleich schnell das Gegenteil behaupten, wir ziehen uns zurück, weil es so viel mit uns zu tun hat.
Vielleicht hat es mit einer Generation und einer neuen Generation zu tun. Oder mit beiden Generationen und der Übergabe, dem Wechsel zwischen diesen Generationen. Vielleicht mit der Zeit, den sich verändernden oder nicht verändernden Zeiten und dem einfachen Vergessen und dem Geldbeutel.
Bei uns hier haben wir auch schon keine rein westliche Zivilisation mehr und laufen mit dem Abzug dort dem Schein hier hinterher, eine Reinheit der Zivilisation hier bewahren zu können, die wir allerdings gleichzeitig massiv schon, um einer linken Progressivität wegen, aufgegeben haben.
Lassen wir die auch allzu offensichtliche Generation Schneeflöckchen und ihre Schrumpfsicht auf die Dinge in unserer transatlantischen Gesellschaft, also auf die Generation, die sich in der westlichen Welt ankündigt, zunächst auf sich beruhen und beiseite, folgen wir weiter unserem syntaktischen Gedanken mit der Erkundung des ES: Stellen wir also als Zwischenthese für den Gegenstand des Erkenntnisgewinns auf: E s ist nicht platt das Afghanistan und nicht das Los der Zeit und nicht der Boden des Geldbeutels.
Diese schablonenhaften, nichtssagenden Schimären des allzu Offensichtlichen werden ja von 99,9 % der Meinungsvermittler und Träger als Gäule zu Tode geritten, vorausgesetzt. Am Objekt Afghanistan geht die Rechtfertigung von allem, was einem selbst nicht gelingt, noch einigermaßen von der Hand. Die Talkshows hierzu sind eine Wonne für das Auftreiben der Differenz: Wir sind besser. Man argumentiert locker vom Hocker von oben herab, auf eine Armee herunter, die nicht kämpft, auf korrupte Eliten, auf einen Präsidenten, der wegfliegt, auf allgemeine Korruption und auf eine Unfähigkeit niederer Zivilisation, selbstverständlich niederer als es die Deutschen sind. Man beruft sich auf die Rückständigkeit der dortigen Menschen, zu der man schnell kommt, wenn man Differenzierungen fortlässt, bzw. außen vor. Man wundert sich zwar, wie schnell so ein Zusammenbruch von statten geht, sieht darin aber wieder das Niedere des anderen bestätigt. Man zeigt sich schockiert von den anderen.
Also riecht bereits die Rechtfertigung von oben herab eigentlich nicht so nach einem Erkenntnisgewinn, würde man ihr, ohne Detektiv zu sein, nickend folgen. Man bessert einfach das geringe Selbstbewusstsein der Deutschen noch im Scheitern der Nato und des transatlantischen Westens auf und sieht sich selbst dann human, wenn man Menschen an den Rampen stehen lässt und sie nicht aus dem Todes-Szenario herausholt. Es reicht uns zum Besserfühlen die Geste. Wir aber können, wird es konkret, nicht die Welt retten, so heißt es nun. Trotzdem sind und bleiben wir beständig die Besseren. Dabei geistert sonst das Weltretten als prägendes Motiv durch die deutsche Politik.
Was ist Es, “Es hat mit uns nichts zu tun. Deshalb sollten wir da weg gehen.”? Es ist im Spiegel zu finden, in dem man sich selbst sieht. Afghanistan ist uns ein Spiegel geworden, der uns 20 Jahre deutsche und afghanische Entwicklungszeit gekostet hat. Spiegel sind immer Zerrspiegel, dennoch Zivilisationen spiegeln sich ineinander. Ich höre schon die Empörten, Sie wollen doch wohl uns mit denen nicht vergleichen?
Heinrich August Winkler weist heute in der Zeitung Die Welt zurecht darauf hin, dass sich unser Gesellschaftssystem über 400, 500 oder gar 1000 Jahre und länger entwickelt hat, bis die Gesellschaft sich in einer neuen Form der Gewaltenteilung und Verantwortung funktional und wertebasiert spiegeln konnte und über diesen Spiegel sich besser, humaner steuern gelernt hat. Das lernen wir theoretisch auch in einer guten Schule und von Hegel, wenn wir ihn lesen. Tribalismus, in solcher Form wie in Afghanistan vor 20 Jahren, war da allerdings der Ursprung in deutschen Landen gewesen, fast noch zur Goethe Zeit. Deutschland hatte, bevor es eine Nation und ein Staat wurde, seine geistige Blütezeit.
Also erwartete man nun von den Afghanen in 20 Jahren ein Projekt von 500 bis 1000 Jahren Zivilisationsgeschichte im Hauruck abzuschließen. Sollte es nicht in Warp-Geschwindigkeit vorbildlich nach unseren jetzigen Maßstäben abgeschlossen sein, gab man es also in diesen Tagen samt den Menschen dem Müllplatz der Geschichte anheim. Ist das jetzt heute die Humanität und Aufklärung? Oder humanitärer Evolutionismus des Schnellen und Starken? Christlich ist es nicht, abendländisch ist es nicht. Hier haben wir wieder das “Es” in jedem Satz und schon ein wenig über es erfahren.
Man spricht auch darüber, allerdings weit weg in anderen Zusammenhängen von Schuld und Verquickung, von einer zu spät gekommenen Nation-Building der Deutschen, was 2 Weltkriege eingebrockt haben soll in der Konsequenz. Woher kommt nun heute diese Zwanghaftigkeit einer geschichtlich nicht notwendigen, sprichwörtlich übereilten, Hals über Kopf – Prüfung, ob die Entwicklung zu einer bürgerlichen Gesellschaft im Allgemeinen dort so weit abgeschlossen, dass sie für die Gesellschaft insgesamt nicht umkehrbar sei auf dem Weg zum Guten und zum Ewigen Frieden? Gibt es nonchalant Unterstützens wertes und unwertes Leben, je nachdem wie schnell ein Leben eine Entwicklung durchläuft, auf dass es, je nachdem, in der Staatenfamilie der Leistungsträger willkommen sei oder ewiger Paria und Barbar? Verurteilt man sich hier, tiefenpsychologisch gesehen im Nachhinein, weil man sich im Spiegel sehen kann in Afghanistan: Wie schnell waren wir in der Entwicklung weg von der Barbarei? Hat man uns zu schnell eine Phase abgeschnitten? Mussten wir uns sehr beeilen nach unseren Schandtaten? Wurden die Deutschen zu schnell zum Guten befördert? Stellen wir in den Raum: Viel Unbewusstes und Unbewältigtes, ganz im Sinne Freuds und der Massenpsychologie und der Geschichte der Massen, hat zu diesem verstörenden Ergebnis in der deutschen Gesellschaft, in den deutschen Medien in der deutschen Politik geführt. Wir sollten uns nicht allgemein über den westlichen Kamm scheren lassen. Die Deutschen haben eine nicht allgemeine Krankengeschichte.
Man stellt sich nicht ernsthaft nach der Serialität von drei Staatsinfarkten in kürzester Zeit, der Pandemiebewältigung, nach der Flutkatastrophe und diesem Desaster in Afghanistan, die naheliegende, dröhnende Frage, wie effizient und schützend ist unser Staat, wie gleichgültig ist unsere Regierung und wie kämpferisch organisiert sind unsere in der Nato organisierten Armeen oder wie stark und engagiert ist im schlimmen Falle die deutsche Armee allein, wenn der Russe anrollt? Was macht denn dann unser Katastrophenschutz? Was würde hier bei einem flächendeckenden Stromausfall geschehen, der aus hypermodernen Kampfeshandlungen herrührt? Wo würden wir hin wollen, wenn der Franzose sich im Angriffsfall des Russen mit Atom-Mittelstreckenraketen erwehrt?
Was wäre, wenn der Russe auf dem Boden rollend keine 24 Stunden bis zum Rhein benötigt, nachdem er vorher Strom und Internet abgestellt hat? Was wäre, überhaupt wenn… hier überhaupt mal etwas passiert? Wo wäre unsere Regierung, unser Präsident Steinmeier? Würden wir nicht den Russen einfach begrüßen und am nächsten Tag, wenn der Strom und das Internet wieder da ist, wieder zur Arbeit gehen und vorher noch einkaufen? Falls wir noch am Leben sind? Wäre die Außenwirkung unserer Handlungen dann wesentlich anders als wenn die Taliban kommen und schon eingesickert waren in den Provinzen in Afghanistan und keiner kämpft?
Deutschland war im Nation Building, im Staatbilden in Afghanistan engagiert. Nun verleugnet man sich selbst, indem man sein nicht versteckbares, objektives Engagement verleugnet.
Mir erscheint Afghanistan ein Menetekel der aktivistischen Vereinigung der Staaten in der Nato, der Vereinigung in der EU gleichermaßen. Nato und EU als Einigungen unterscheiden sich nicht wesentlich von einem Projekt, welches auch das Objekt ihrer Handlungen ist. Organisationsgrad ist das, was man in den Handlungen sieht.
Man hat in den 20 Jahren Afghanistan Einsatz den Charakter der eigenen Handlungen mit seinen Aufgaben nicht so genau fassen wollen, aber praktisch die Zielstellung der Implementierung zivilisatorischer Standards dennoch doch recht klar verfolgt. Die Mittel der Verachtung, nämlich auch dort eine korrupte Oberschicht zu schmieren, waren nicht immer die besten und das Ergebnis deswegen logischerweise auch nicht. Diese Mittel spiegeln nun einmal denjenigen und dessen Gesellschaftsverständnis, der sie anwendet.
Die Monstranz ist schön. Wir haben in Deutschland mit einem viel höheren Grad an Korruption und einem epidemisch mangelnden Verantwortungsbewusstsein für das Allgemeine und die Gesellschaft zu tun, als es dem gemeinen Volk bisher klar geworden ist.
Schockierend stand der Kaiser nun dreimal hintereinander ohne Kleider da, zuletzt sah man ihn im Spiegel Afghanistan.
Nehmen wir die Unwahrscheinlichkeit des Ausbleibens eines Weltkrieges: In den kommenden Jahren und Jahrzehnten werden die Umweltkatastrophen, die Staatspleiten und die Kataklysmen am Finanzmarkt, wie erwartbar, im gemeinen Volk zu mehr Armut führen und zu Recht zu einem tieferen Gefühl betrogen worden zu sein. Der kleine Mann in Deutschland wird unter dem Zusammenbruch des Schirms einer behütenden Organisation und Sorge wütend sein wie die zurückgelassenen Ortskräfte in Afghanistan. Das wird für den Grad der erreichten Zivilisation in Deutschland fürchterliche Folgen zeitigen und keine schönen Bilder machen.
Ein solcher Abbruch, ein solch, sehenden Auges, bewusst eingeleiteter, aktiv vom Westen exerzierter, dystrophischer Abbruch einer Zivilisation-in-Entwicklung und verhältnismäßig friedlicher Zustände, wie hier und heute in Afghanistan gesehen, ist historisch einmalig und daher mit Ankündigungscharakter auf das, was da kommt, zu sehen.
Diese Afghanistan Katastrophe, das Ent-Setzen in Afghanistan der 10tausenden von Menschen, die dem Westen vertraut haben in dem überstürzten Ende, insbesondere die Flucht des Westens antizipieren nicht die Endlichkeit des Konzepts des Westens, sondern das Ende der Humanität in den Herzen der Akteure selbst, letztendlich das Ende der Glaubwürdigkeit des Vorhandenseins einer humanen Erziehung und Einstellung im Westen. Das Manko fehlender Glaubwürdigkeit, ein Herz am rechten Fleck zu haben, ist der Kassandraruf für kommendes Unheil für den Westen und für die gesamte Welt, die das Entsetzen neu kennenlernen wird.
Humanismus braucht Herz und Hirn und keinesfalls eine kafkaeske Verachtung aus Deutschland.
Die Verachtung der “Besseren”, herabgelassen auf die Afghanen, lässt sich ablesen an der Skrupellosigkeit eines sardonischen Bürokratismus elenden Hinhaltens. Behördliches Abwarten im Auswärtigen Amt, bis ein afghanischer Staat, der doch gerade zusammenbricht, die Papiere seiner Bürger freigibt zur Ausreise, bringt die Helfer der Deutschen in die akute Gefahr um Leib und Leben. Sich von den Behörden einer kollabierenden Regierung den Amtsschimmel vorführen zu lassen auf seinen letzten Metern, zeigt den Westen herzlos und hirnlos, aber eigentlich nicht machtlos.
Der transatlantische Westen delegitimiert sich, versteht sich selbst nicht länger. Er verachtet, was er selber schuf, und wird so zum Risiko für die Bewohner dieses Planeten. Fehler solchen Ausmaßes in der globalen Entwicklung, in dieser Periode des Planeten voll gefährlicher Waffen, sind unverzeihlich.
Der Weltfrieden hat – als eigentlicher und vergessener Herrscher – keine Kleider mehr.