Im folgenden gebe ich in dankbarer Erinnerung an Hans Magnus Enzensberger und meine Schulzeit am Rivius Gymnasium mit dem Deutsch und Philosophielehrer Karl Heinz Klosner, in Ausschnitten, einen bemerkenswerten und ruhigen Newsletter (25.10.2023) von Benedict Neff wieder, Neue Züricher Zeitung.
Es brauchte ein Massaker in Israel, um der deutschen Öffentlichkeit klarzumachen, dass immer noch die Juden die Juden sind.
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Ein schmales Bändchen von Hans Magnus Enzensberger wirkt wie ein Kommentar zur Zeit oder gar wie ihre Vorwegnahme, manche Essays sind über dreissig Jahre alt. In «Die Grosse Wanderung» schreibt Enzensberger: «Nirgends wird die universalistische Rhetorik höher geschätzt als hier. Die Verteidigung der Einwanderer tritt mit einem moralischen Gestus auf, der an Selbstgerechtigkeit nichts zu wünschen übriglässt. Losungen wie ‹Ausländer, lasst uns nicht mit den Deutschen allein!› oder ‹Nie wieder Deutschland› zeugen von einer pharisäerhaften Umpolung.»
Dass eine grenzenlose Asylpolitik nicht funktionieren würde, war Enzensberger schon 1992 klar. «Wer seine Landsleute auffordert, allen Mühseligen und Beladenen der Welt eine Zuflucht zu bieten, womöglich unter Berufung auf kollektive Verbrechen, die von der Eroberung Amerikas bis zum Holocaust reichen, ohne Folgenkalkül, ohne politische und ökonomische Vermittlung, ohne Rücksicht auf die Realisierbarkeit eines solchen Vorhabens, macht sich unglaubwürdig und handlungsunfähig», schreibt er und fügt hinzu: «Tiefgreifende gesellschaftliche Konflikte können nicht durch Predigten abgeschafft werden.»
Genau dies ist die deutsche Regierungstaktik bis heute: Predigerhaft wird die Bevölkerung auf die hehren Ziele eingeschworen. Sowohl die Politik als auch der Politikstil stoßen aber zunehmend an Grenzen.
In «Aussichten auf den Bürgerkrieg» schreibt Enzensberger, dass es an der Zeit sei, sich von «moralischen Allmachtsphantasien» zu verabschieden. Auf Dauer komme kein Gemeinwesen darum herum, die Abstufungen seiner Verantwortung zu prüfen und Prioritäten zu setzen. «Für die Deutschen muss es heissen: Nicht Somalia ist unsere Priorität, sondern Hoyerswerda und Rostock, Mölln und Solingen. Dazu reichen unsere Handlungsmöglichkeiten, das ist jedem Einzelnen zuzumuten, dafür haben wir zu haften.» Ein Sozialstaat, der nachhaltig funktionieren soll, kann nicht der ganzen Welt offenstehen. Der Wille von Zuwanderern, sich zu integrieren, ist begrenzt, auch aufgrund von Diskriminierungserfahrungen. Ebenso begrenzt ist der Wille der Mehrheitsgesellschaft, Fremde aufzunehmen. (…)
Ein Land, das Flüchtlinge aufnimmt, um weniger sich selbst sein zu müssen, hat das falsche Motiv. In der Asylpolitik kann es nicht um deutsche Selbsthilfe gehen. Diese Selbsthilfe macht blind für die Probleme. Dessen ungeachtet bleibt die Frage: Wie will eine Gesellschaft, die ein unsicheres Identitätsgefühl hat, eine muslimische Männerkultur integrieren, die an einem kollektiven Minderwertigkeitskomplex leidet? Ohne klares Identitätsangebot und den Willen, eigene Werte als verbindlich zu erklären, kann es sich das Land auch schwer leisten, judenfeindliche Asylsuchende in einer grossen Zahl aufzunehmen. (…)
Das Land ist trotz dem Hang seiner Politiker zu idealistischem Abenteurertum und moralischer Überheblichkeit etwas mittiger geworden. Und es dürfte, herausgefordert von vergangenen Fehlern und alarmiert von dem Zuwachs der AfD, künftig noch ausbalancierter werden.
Vielleicht ist die Mitte in Deutschland aber auch nur ein Kipppunkt. Ist er einmal erreicht, schwenkt der unbedingte Wille zur Moral ins gegenteilige Extrem. «Was ist das Deutsche?», hat Thomas Mann gefragt. «Ein Abgrund, bodenlos.» Es muss nicht immer so sein.
(Newsletter: “Muslimische Migranten wurden lange verklärt”)